DAS HERZ ZU DEN HEILIGEN STÄTTEN TRAGEN


Reisende bereiten sich entsprechend ihrem Ziel auf ihre Reise vor und packen die dafür notwendigen Dinge ein.Entsprechend der Länge der Wegstrecke sowie dem Rang und Wert des Reiseziels füllen sie ihre materiellen und spirituellen Reisetaschen.

Wenn die Reise zu einem gewöhnlichen Ort führt, genügt eine einfache Vorbereitung. Führt die Reise zu einem wichtigen Ort, bedarf es ernsthafterer Vorbereitungen.

Geht die Reise jedoch zum Herrn der Ka‘ba und zu Seinem Gesandten – Allah segne ihn und schenke ihm Frieden –, ist das, was wir mitnehmen, von lebenswichtiger Bedeutung.

Denn die Reise zu den beiden heiligen Stätten [alHaramayn al-scharifayn] ist gewissermaßen eine Vorbereitung auf den Ort der letzten Einkehr, das Jenseits, sowie auf den Paradiesgarten und die Schau der absoluten Schönheit des Antlitzes Allahs.

Aus dieser Sicht betrachtet ist das, was wir auf unsere Reise in den Hijaz (1)  mitnehmen, von solch entscheidender Bedeutung, dass es sogar über das Wie und Wo unseres ewigen Lebens bestimmt. Aus diesem Grunde sagte ‘Umar ibn ‘Abd al-‘Aziz (2)  – möge Allah mit ihm zufrieden sein:

„Trefft eure Vorbereitungen je nachdem, wie und wo ihr im Jenseits ankommen wollt!“

Indem er auf diese Tatsache hinweist, gibt der ehrwürdige Maulana in seinem Mathnawi den Reisenden zu den heiligen Orten wiederholt Ratschläge. Dabei lenkt er die Aufmerksamkeit darauf, dass es bei der Reise in den Hijaz vor allen anderen Dingen notwendig ist, ein durch spirituelle Erziehung und innerliche Läuterung gereinigtes Herz mitzunehmen. Wie man das Herz für die Reise in den Hijaz, für den Besuch des Herrn der Ka‘ba vorbereitet, erklärt er folgendermaßen:

Wenn du dich auf die Reise machst, brich mit der Absicht auf, ein vollkommener Mensch zu werden, auf dass sich der Horizont deines Herzens weitet!

Wer Saatgut sät, will Weizen ernten. Das Stroh, das mit dem Weizen in Erscheinung tritt, ist nur der Ausschuss desselben.

Wenn du Stroh säst, kommt kein Weizen hervor. Darum suche nach dem vollkommenen Menschen, dem tugendreichen Wegführer, und folge ihm!

Wenn dann die Zeit für die Hadsch kommt, reise mit der Absicht, die Ka‘ba zu besuchen und sie zu umrunden! Wenn du mit dieser Absicht reist, wirst du die Wirklichkeit der Ka‘ba zu sehen bekommen.

Das Ziel ist das Sehen eben dieser Wirklichkeit. In der Tat wird der Mensch in einem edlen Qur’anvers gewarnt, sich vor den Rafath genannten, sinnlosen weltlichen Dingen, die ihn nichts angehen, zu hüten, um der Erfahrung dieser Wirklichkeit teilhaftig zu werden. Doch um ein solch vorzügliches Benehmen an den Tag legen zu können, müssen wir uns vor der Pilgerfahrt spirituell vorbereiten. Diese spirituelle Vorbereitung jedoch nimmt in ihrer Gänze im Herzen ihren Anfang und setzt sich im Herzen fort.

 Der ehrwürdige Maulana beschreibt die Vorbereitung des Herzens, die Abu Yazid al-Bistami auf dem Weg in den Hijaz durchlebte, so:

Als Abu Yazid sich zur Hadsch aufmachte, begegnete er einem hageren Scheikh von großer Statur, der mit der spirituellen Ausstrahlung eines Gottesfreundes strahlte wie der Neumond am Himmel.

Seine Augen waren blind für diese Welt, doch sein Herz war wie die Sonne (offen für das Jenseitige).

Abu Yazid setzte sich dem Meister gegenüber und dieser fragte ihn: „O Abu Yazid, wohin geht die Reise? Wohin trägst du das Gepäck der Fremde (das anvertraute Gut des Körpers)?“

Abu Yazid antwortete: „Ich beabsichtige die Hadsch zu vollführen und habe dafür zweihundert Dirham bei mir.“

Der Meister sprach zu Abu Yazid: „O Abu Yazid! Verteile einen Teil dieses weltlichen Gutes auf dem Wege Allahs unter den Bedürftigen, Alleinstehenden und Verzweifelten! Geh ein in ihre Herzen und werde dadurch ihrer Bittgebete teilhaftig, auf dass sich der Horizont deines Geistes weite! Lass erst einmal dein Herz die Hadsch vollführen! Dann sezte mit empfindsamem Herzen die delikate Reise zur Hadsch fort.

Denn die Ka‘ba ist das Haus Allahs, dessen Besuch Pflicht ist, wofür göttlicher Lohn versprochen ist. Doch das Herz des Menschen ist eine Schatzkammer voller Geheimnisse.

Die Ka‘ba ist das Gebäude Ibrahims – Friede sei auf ihm –, des Sohnes des Àzar. Das Herz jedoch ist der Ort, auf dem der Blick Allahs, des Majestätischen, des Größten, ruht.

Wenn du mit dem inneren, geistigen Auge zu schauen vermagst, umrunde die Ka‘ba des Herzens! Denn die eigentliche Bedeutung der Ka‘ba, die du für aus Stein und Ton errichtet hältst, ist das Herz.

Allah, der Allwahre, hat es zur Pflicht gemacht, die sichtbare, bekannte Ka‘ba zu umrunden, damit du dich eines von Unreinheiten geläuterten Herzens erfreuen kannst.

Sei dir bewusst, dass der Lohn dafür, die gesamte Pilgerfahrt zu Fuß zu verrichten, kein Ausgleich dafür wäre, wenn du ein Herz, auf dem Allahs göttlicher Blick ruht, verletzt oder brichst.

Gib all dein Sein und Nichtsein, dein Hab und Gut hin, und lass ein Herz entstehen! (Mit solch einem Herzen verrichte die Hadsch!) Auf dass das derart gewonnene Herz dir im Grab, in der stockdunklen Finsternis jener Nacht Licht spenden möge!

Selbst wenn du Tausende von Säcken voller Gold in Allahs göttliche Gegenwart brächtest, würde Er, der Allwahre, sagen: ‚Wenn du Uns etwas bringen möchtest, dann bring uns ein gewonnenes Herz! Denn Gold und Silber gelten bei Uns nichts. Wenn du Uns und Unser Wohlgefallen willst, vergiss nicht, dass dies an den Erwerb eines Herzens gebunden ist!‘

Möge sich das Auge deines Herzens weit öffnen, damit du die Manifestation des göttlichen Lichts im Menschen erkennst!“

Abu Yazid verstand diese grundlegenden Erklärungen des Scheikhs. In der Begegnung der Herzen mit ihm hatte er etwas von den Geheimnissen der Barmherzigkeit erfahren. Erfüllt von innerem Frieden und leidenschaftlichem Verlangen setzte er seine Pilgerfahrt fort.

Ein solcher Grad an Reife ist das größte Kapital des Herzens auf der Reise zur Hadsch. Um diesen Zustand zu erreichen, ist es allerdings notwendig, das Ego zu reinigen und das Herz zu läutern. Denn der Mensch, der keine derartige Erziehung genossen hat, birgt in seinem Inneren ein Ego, das größeren Schaden verursacht, als das wildeste aller Tiere. Zugleich ist dieses wie ein schmutziger Behälter, der alles Schöne, was in ihn hineingetan wird, verunreinigt.

Um die Wirklichkeit der spirituellen Erziehung zu sehen, genügt es dem Menschen, die Erziehung einiger der Tiere zu betrachten, die er sich zu seinem Nutzen heranzieht. Erzieht er nicht aus Notwendigkeit für seine Bedürfnisse zahlreiche Arten von Tieren? Im Laufe der Geschichte hat er seinen Bedürfnissen entsprechend das Pferd derart zugeritten, dass es sogar in der Schlacht mit ihm die Begeisterung zu teilen vermag; er hat Tauben dazu abgerichtet, Briefe zu transportieren, Hunde dazu ausgebildet, für ihn Wache zu halten, und sogar Raubtiere dressiert, im Zirkus Kunststücke vorzuführen. Hätten diese Tiere nicht die Erziehung ihrer Ausbilder genossen, könnten sie den Menschen nicht von Nutzen sein. Im Gegenteil – sie würden ihnen sogar großen Schaden zufügen. Doch selbst die schädlichsten Eigenschaften der wildesten unter ihnen verwandeln sich infolge einer guten Erziehung in Nutzen. Kurz gesagt kann der Unterschied zwischen einem Tier, das eine Erziehung genossen, und einem, das keine durchlaufen hat, aus der Sicht des Menschen seinen Tod oder sein Überleben bedeuten. Selbst ein so gefährliches Tier wie die Kobra lässt sich, wenn man in seine Dimensionen vordringt und es erzieht, mit einer einfachen Flöte dirigieren. Das bedeutet, dass in dem Maß, in dem bei einem erzogenen Tier der Nutzen überwiegt, bei einem unerzogenen Tier der Schaden überwiegt. Darauf beruhend wird in unserer Religion zur Bedingung gemacht, dass bei der Jagd, wenn notwendig, entsprechend ausgebildete Hunde genutzt werden. Andernfalls wird die erjagte Beute nicht als zum Verzehr zulässig [halal] betrachtet. In einem edlen Qur’Ánvers heißt es diesbezüglich:

{Sprich: „Erlaubt sind euch die guten Dinge.“ Und wenn ihr beutegreifende Tiere durch Abrichtung von dem gelehrt habt, was Allah euch gelehrt hat, dann esst von dem, was sie für euch erbeuten, und sprecht den Namen Allahs darüber aus.} (3)

Wenn selbst bezüglich der Erziehung oder Nichterziehung eines Jagdtieres derart empfindliche Maßstäbe angelegt werden, wie wichtig ist dann die Erziehung des Menschen?

Diese Angelegenheit ist so wichtig, dass Allah, der Allwahre, dem Menschen, seit dem Tag seiner Erschaffung zahllose Propheten und Bücher gesandt hat, um ihn zu erziehen.

Andernfalls kann der Mensch zum grausamsten und ungerechtesten, zum selbstsüchtigsten, zum erbarmungslosesten, zum wildesten, kurzum zum schädlichsten aller Wesen werden. Tatsächlich sind die Schauplätze der Geschichte erfüllt von unzähligen Greueltaten, welche die Grausamkeit des Menschen bezeugen. Oder ist das Unrecht, das Hulagu beging, als er in Bagdad eindrang und 400.000 unschuldige Menschen in den Wassern des Tigris ertränkte, anders zu erklären? Mit ebensolcher Grausamkeit wurde die Herrschaft des Kommunismus auf den Leichen von 20 Millionen Menschen begründet. Im Vergleich zur Jagdlust einer Bestie, die nur so viel jagt, wie sie zum Stillen ihres Nahrungsbedarfs braucht, ist die schier unstillbare Mordlust eines in seiner Grausamkeit ungezügelten Menschen in höchstem Maße furchterregend. Daher ist der Mensch von allen Wesen dieser Welt dasjenige das am meisten der Erziehung bedarf. Der Mensch muss unter allen Umständen und in der besten Weise erzogen werden, damit die Welt nicht in Blutvergießen und Grausamkeit untergeht.

So gesehen ist diese Welt ein Klassenzimmer und alles dient der Erziehung des Menschen. Aufgaben einer spirituellen Lehranstalt zur Erziehung der Herzen. Die Meister ersten Grades dieser Art der Erziehung sind die Propheten, die von Allah, dem Allwahren, selbst unterrichtet wurden. Aus diesem Grund sagte ehrwürdiger Prophet – möge Allah ihn segnen und ihm Frieden schenken:

„Mich hat mein Herr erzogen, und Er erzog mich in vortrefflichster Weise.“ (4)

Der Kern der ganzen Angelegenheit besteht darin, durch eine solche vorzügliche Erziehung in die Lage versetzt zu werden, diesen von Allah gepriesenen lobenswerten Charakter zu verwirklichen. Denn erst dann ist der Gottesdienst wirklicher Gottesdienst, erst dann ist das Gebet wirklich Gebet, das Fasten wirklich Fasten, die Hadsch eine wirkliche Hadsch. Das heißt, erst dann ist der Mensch wirklich ein Mensch.

Dies ist zugleich die wichtigste Vorbereitung, die der Mensch für seine Reise in die Ewigkeit braucht: durch die göttliche Erziehung zu reifen und zur Vollkommenheit zu gelangen. Dann manifestieren sich die Bedeutungen der Schönheiten, der Gottesdienste und der übrigen guten Werke und Wohltaten, die unsere Leben füllen. Unsere Dienste steigen auf bis zum erhabenen Thron. Unsere Gebete werden angenommen und unsere Hadsch wird als erfüllte Pflicht anerkannt. Das heißt, wir zählen zu jenen, die ein reines, heiles Herz [qalb salim] erlangt haben, welches den Menschen zu Allah bringt. Indem wir mit einem solchen heilen Herzen andere Herzen von ihren Sorgen heilen und sie von ihren Bedrängnissen befreien, wird es auch uns möglich, mit den so gewonnenen Herzen in die Gegenwart Allahs aufzusteigen, und dann manifestieren sich für uns das Wohlgefallen und die Liebe Allahs.

Wer dann in jene gesegneten Landstriche ein solchermaßen gereiftes Herz und dazu noch ein gewonnenes Herz bringt, der wird nicht mehr gefragt: „Was hast du mitgebracht?“

Diese Glücklichen werden nicht nur dadurch geehrt, dass ihnen die Annahme ihrer eigenen Gottesdienste zuteil wird, sondern um ihretwillen werden sogar die Gottesdienste anderer Menschen akzeptiert.

Wie in Tadhkirat al-Auliya’ berichtet wird, befand sich ‘Abd Allah ibn al-Mubarak, der zur Nachfolgegeneration der Prophetengefährten zählte und ein äußerst gelehrter und tugendhafter Mensch, ein Experte der prophetischen Überlieferung war, einmal, nachdem er die Hadsch vollführt hatte, in der Moschee von Mekka. Er fiel in eine Art Halbschlaf und wurde Zeuge, wie zwei Engel vom Himmel herabstiegen. Der eine sprach zum anderen: „In diesem Jahr haben 600.000 Menschen die Hadsch vollführt. Die Hadsch von ihnen allen wurde angenommen aufgrund der guten Tat eines in Syrien lebenden Schuhmachers namens ‘Ali ibn Muwaffaq. Dieser Mensch hatte auch die Absicht gefasst, die Hadsch zu vollziehen, konnte dann jedoch nicht gehen. Aufgrund einer seiner Taten wurde die Hadsch all dieser Pilger angenommen.“ Als ‘Abd Allah ibn al-Mubarak aus seinem Halbschlaf erwachte, war er voller Neugier und Verwunderung. Er machte sich mit der Karawane, die nach Syrien zog, auf den Weg dorthin. Dort angekommen fand er jenen Mann und fragte ihn: „Welche Tat hast du, anstatt zur Hadsch zu gehen, vollbracht?“

Als ‘Ali ibn Muwaffaq eine so berühmte Person wie ‘Abd Allah ibn al-Mubarak vor sich sah, war er vollkommen überrascht und fiel vor lauter Erregung in Ohnmacht. Als er dann wieder zu sich gekommen war, berichtete er Folgendes:

 „Schon seit 30 Jahren wollte ich immer zur Hadsch gehen. Nachdem ich durch den Handel mit Altwaren dreihundert Dirham angespart hatte, fasste ich die Absicht zur Hadschreise. Da sprach meine schwangere Frau zu mir: ‚Bei den Nachbarn duftet es nach Fleisch – magst du nicht um ein Stück Fleisch für mich bitten?‘ Also ging ich zu meinem Nachbarn hinüber und berichtete ihm vom Wunsch meiner Frau. Darauf begann dieser zu weinen und sprach: ‚Seit sieben Tagen hungern meine Kinder. Ich fand am Wegrand ein verendetes Tier, schnitt ein Stück davon ab und koche es nun, um sie hinzuhalten. Wenn ich keine erlaubte Nahrung finde, muss ich ihnen dieses Stück zu essen geben. Wenn du willst, gebe ich euch etwas davon ab, aber dieses Fleisch, das ich da koche ist nur für meine Kinder, die inzwischen an der Schwelle zum Tode stehen, erlaubt [Halal], für euch hingegen ist es weiterhin verboten [Haram].‘“

‘Ali bin Muwaffaq fuhr fort und erzählte: „Als ich diese Worte hörte, war mir, als würde mein Inneres in Stücke gerissen. Ich überreichte ihm die dreihundert Dirham, die ich mit soviel Mühe zusammengetragen hatte. Ich wandte mich an meinen Herrn und sagte: ‚O mein Herr! Nimm meine Absicht an!‘“

Daraufhin sagte ‘Abd Allah ibn al-Mubarak: „Dann war also der Traum, den mich mein Herr sehen ließ, wahr!“

Zusammenfassend sind in den beiden Geschichten des ehrwürdigen Maulana und des ‘Abd Allah ibn alMubarak drei Grundregeln enthalten, die uns für unsere Reise zu den heiligen Stätten anempfohlen werden:


1. Besuch der Rechtschaffenen vor Antritt der Reise

Der Mensch muss sich entsprechend der Bedeutung der Reise, auf die er sich macht, materiell, vor allem aber spirituell vorbereiten. Die Reisevorbereitungen sollten mit Besuchen bei Leuten des Herzens beginnen, um ihrer Bittgebete teilhaftig zu werden und durch ihr hohes Streben [himma] und ihren aufrichtigen Rat angespornt zu werden.


2. Spenden

Damit das Herz eine den zu besuchenden, erhabenen Orten gebührende Empfindsamkeit und Sanftheit entwickelt, sollte man den Bedürftigen und Alleinstehenden Freuden bereiten. Dabei sollte man vom Herzen und reichlich spenden. Schließlich sagt Allah, der Erhabene, in einem Vers des edlen Qur’an:

{O ihr, die ihr glaubt, wenn ihr ein vertrauliches Gespräch mit dem Gesandten wünscht, so schickt eurem vertraulichen Gespräch wohltätige Spenden voraus! Dies ist besser für euch und reiner. Wenn ihr jedoch nichts findet, dann ist Allah wahrlich allverzeihend, barmherzig.} (5)

Der Gesandte Allahs – möge Allah ihn segnen und ihm Frieden schenken – sagte: „Beeilt euch mit dem Geben wohltätiger Spenden [sadaqa], denn das Unglück vermag der sadaqa nicht zuvorzukommen.“(6)

Wie der Gesandte Allahs – möge Allah ihn segnen und ihm Frieden schenken – berichtete, kam eines Tages eine Gruppe von Menschen zu ‘Isa a.s – Friede sei mit ihm. Der ehrwürdige ‘Isa a.s sagte: „Einer von diesen Menschen wird, so Allah will, noch heute sterben!“

Dann gingen sie davon. Am Abend kamen sie wieder in seine Gegenwart, jeder mit einem Bund Holz auf dem Rücken. ‘Isa a.s – Friede sei mit ihm – sprach: „Legt euer Holz auf den Boden!“

Danach sagte er zu dem Mann, dessen Tod er für diesen Tag vorausgesagt hatte: „Schnüre dein Holzbündel auf!“

Als der Mann das Bündel öffnete, kam eine schwarze Schlange hervor. Der ehrwürdige ‘Isa a.s fragte den Mann: „Welche gute Tat hast du heute verrichtet?“

Der Mann antwortete: „Ich habe heute keine besondere gute Tat verrichtet.“

‘Isa a.s – Friede sei mit ihm – sagte: „Überlege genau, was hast du getan?“

Darauf sagte jener: „Ich habe nichts Besonderes getan. Ich hatte nur ein Stück Brot bei mir, von dem ich etwas abgab, als mich ein Armer darum bat.“

Da sprach ‘Isa a.s – Friede sei mit ihm: „Aus diesem 

Grund wurde das Unglück von dir ferngehalten.“(7)

Man sollte nicht vergessen, dass Kinder und Besitztümer, wenn sie nicht dem Weg Allahs gewidmet sind, dem Menschen nichts als Schaden und Verlust bringen. Welches Glück bedeuten sie hingegen für den, der sie auf dem Weg Allahs zum Einsatz bringt! Schlussendlich sind sie jedoch allesamt vergänglich und werden in der diesseitigen Welt zurückbleiben.


3. Herzen gewinnen

Ein Herz ist nicht nur durch das Geben von Spenden gewonnen. Ein wirkliches Gewinnen von Herzen geschieht neben dem Spenden für die Bedürftigen dadurch, dass man erkrankte Herzen durch Spiritualität und eine rechtschaffene Ausrichtung heilt. Denn nichts bringt größeren Gewinn, als einen Diener zu seinem Herrn zu führen. Natürlich hängt auch dies wiederum davon ab, dass der Mensch zunächst die Welt seines eigenen Inneren reinigt. In einem edlen Qur’anvers heißt es:

{An jenem Tage werden weder Besitz noch Nachkommen etwas nützen, sondern nur, wenn jemand mit einem reinen Herzen erscheint.} (8)

Solche Herzen gleichen, was ihre Eignung als Stätten göttlicher Manifestationen betrifft, den höchsten Gipfeln. Den erhabenen Wert eines derart geläuterten Herzens – wahrscheinlich weil in seinem Werden auch der menschliche Wille beteiligt ist – bringt der ehrwürdige Maulana, voller Ehrerbietung zum Ausdruck, indem er sagt:

Ein Gebäude des Khalil, Sohn des Azar, die Ka‘ba ist, der Ort, auf dem der Blick Allahs, des Majestätischen, des Größten, ruht, das Herz aber ist.

In der Literatur des Sufismus findet sich häufig der Vergleich des menschlichen Herzens mit der Ka‘ba. Das liegt daran, dass das Herz im Menschen einen ähnlichen Rang einnimmt wie die Ka‘ba in der gesamten Schöpfung. In der Tat nehmen beide dadurch eine zentrale Stellung ein, dass sie Stätten göttlicher Manifestationen sind. Die Art und Weise, in der in diesen Geschichten das Herz als noch vorzüglicher als die Ka‘ba präsentiert wird, entspringt zu einem Teil der überschäumenden Begeisterung der Liebenden, zum anderen der Absicht, zu vermitteln, wie wichtig es ist, das Herz in diesen Zustand zu bringen und zu den dafür notwendigen Anstrengungen anzuregen.

Höchst bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang folgende, an die Ka‘ba gerichtete Worte Ibn ‘Umars r.a– möge Allah mit beiden zufrieden sein – bezüglich jener, deren Herzen sich in Stätten der Manifestation des Göttlichen verwandelt haben:

„Wie gewaltig bist du (O Ka‘ba) und wie gewaltig ist deine Unantastbarkeit. Doch die Unantastbarkeit eines wahren Gläubigen ist aus der Sicht Allahs noch gewaltiger als die deine.“ (9)

Der ehrwürdige ‘Abd al-Qadir al-Jilani – möge sein Geheimnis gesegnet sein – drückt die Bedingung dieser Größe so aus:

„Das Herz wird nur für jene zur Ka‘ba, die sich, befreit von den Wünschen des Egos, ganz und gar Allah hingegeben haben.“

Hierbei ist jedoch Folgendes zu betonen:

Die angeführten Beispiele sollen dazu anhalten, die Pilgerfahrt mit einem empfindsamen und spirituell erfüllten Herzen anzutreten und keinesfalls als Gründe dafür dienen, die Hadsch zu unterlassen. Denn die Hadsch ist für den, der dazu in der Lage ist, ein Pflichtgottesdienst. Wenn sie nicht vollzogen wird, bleibt sie für den, der die Mittel dazu hat, eine unbeglichene Schuld. In der von uns als Beispiel angeführten Geschichte des ‘Ali ibn Muwaffaq, der sein Gespartes einem Armen gibt, wird auch deutlich, dass die Hadsch für ihn keine Pflicht mehr war. Denn die Hadsch ist keine Pflicht für jene, die nicht über die notwendigen Mittel verfügen. Für diejenigen hingegen, die über die Mittel dazu verfügen, ist sie eine umgehend zu vollziehende Verpflichtung. Diese Verpflichtung entfällt auch dann nicht, wenn jemand, nachdem er einmal die Mittel dazu hatte, verarmt, – aufgrund seiner Nachlässigkeit, als er die Mittel dazu besaß. Unser ehrwürdiger Meister, der Gesandte Allahs – möge Allah ihn segnen und ihm Frieden schenken –, warnte sogar:

„Wenn jemand über genügend Reiseproviant und ein Reittier verfügt, um zum Haus Allahs zu gelangen, und dann nicht die Hadsch vollführt, gibt es nichts, was verhindert, dass er als Jude oder Christ stirbt!“ (10)

Diese Aussage ist ein klarer Maßstab für die Wichtigkeit der Hadsch und dafür, dass sie in einer von Spiritualität geprägten Weise vollzogen werden soll. Mit anderen Worten ist es weder wahr noch akzeptabel zu sagen: „Ich gewinne ein Herz und das entspricht der größten Hadsch.“

 Man muss im Rahmen seiner Möglichkeiten beides tun. Denn dies sind zwei verschiedene Arten von Gottesdienst. So, wie die Verrichtung des Gebets nicht das Fasten ersetzen kann, ersetzt auch die Hilfe für Arme nicht die Hadsch.

Andererseits gibt es, wie beim Gebet und Fasten, auch bei der Hadsch eine freiwillige Variante. Die ignorante Kritik, die an der Verrichtung freiwilliger Pilgerfahrten geäußert wird, besteht oft aus Worten, die – Allah bewahre uns davor – an die Grenzen des Unglaubens [kufr] stoßen. Es sind haltlose, törichte Ansichten, zutiefst finstere Äußerungen, die auf der Unfähigkeit beruhen, die Süße des Gottesdienstes zu empfinden.

Während der als „Zeitalter der Glückseligkeit“ bekannten Ära zu Lebzeiten des Propheten – Allah segne ihn und schenke ihm Frieden – wurden freiwillige Gottesdienste [nawafil] mit begeisterter Inbrunst des Glaubens verrichtet. Voller Enthusiasmus und Sehnsucht verrichtete Gottesdienste lassen den Diener die Manifestation der Gottesnähe erfahren und verleihen der Seele größere Tiefe. Die Eigenschaften der Barmherzigkeit und Großzügigkeit treten in Erscheinung. Allah, der Allwahre, wird zu dem Auge, mit dem er sieht, zu dem Ohr, mit dem er hört, das heißt, sein Sehen, sein Hören, sein Denken und seine Äußerungen sind allesamt fließende Ströme göttlichen Lichts.

Ein derartiges Aufsteigen ist nur möglich durch Liebe zu den freiwilligen Gottesdiensten und Barmherzigkeit gegenüber den Geschöpfen. In diesem Zusammenhang reicht es wohl aus, als Beispiel zu erwähnen, dass der ehrwürdige Imam Abu Hanifa fünfundfünfzig Mal die Hadsch vollzog. Möge Allah, der Allwahre, unseren Herzen Seine göttliche Erziehung in einer Weise zuteil werden lassen, die sie zur Ka‘ba werden lässt. Möge Er uns damit beschenken, mit vielen gewonnenen Herzen einen Anteil an den Sphären des Herzens unseres Meisters, des ehrwürdigen Propheten – möge Allah ihn segnen und ihm Frieden schenken – zu erwerben und durch das Vollführen einer wirklich angenommenen, von Spiritualität geprägten und gesegneten Hadsch in Seine Gegenwart zu gelangen!

Àmin!  Osman Nûri TOPBAŞ

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1. Die al-Hijaz (wörtl.: „die Barriere“) genannte Region im heutigen Saudi-Arabien trennt das Gebiet von al-Najd im Osten von

al-Tihama im Westen und beinhaltet das Gebiet um die beiden

heiligen Stätten Mekka und Medina einschließlich der Hafenstadt

Jeddah am Roten Meer.

2. Der häufig als „fünfter rechtgeleiteter Kalif“ bezeichnete ‘Umar

ibn ‘Abd al-‘Aziz (gest. 101 H.) war ein für seine Großzügigkeit

3. Qur’Án, 5:4.

4. Al-Suyuti, al-Jami‘ al-Saghir, Bd. I, Nr. 780.

5. Qur’Án, 58:12.

6. Al-Haythami, Majma‘ al-Zawa’id, Bd. III, 110.

7. Al-Haythami, Bd. III, 110; Ahmad, al-Zuhd, Bd. I, 96

8. Qur’Án, 26:88-89.

9. Al-Tirmidhi, Birr, 85.

10. Al-Tirmidhi, Hadsch, 3.