JEDER SOLL MIT ANFASSEN!
Niemand war zu Hause. Vor Dunkelheit konnte man nicht die
Hand vor Augen sehen. Nur das heulende Geräusch des Windes
erfüllte das Zimmer. Das Zickzack eines Blitzstrahles leuchtete
hinter den Bergen auf. Die Stadt Mekka war im Begriff, in den
Fluten zu versinken.
Erregt richtete sich Abū Umayya auf und schaute aus dem
Fenster. Die gewaltige Flut riss draußen Steine und Erde mit sich.
Plötzlich hörte er ein lautes Geräusch aus der Richtung der Ka‘ba,
so als würde das heilige Gebäude einstürzen. Am liebsten wäre er
sofort hingelaufen, doch bei diesem Unwetter war es unmöglich,
hinauszugehen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als zu warten.
Am nächsten Tag ließ das Unwetter nach. Noch vor Sonnenaufgang lief Abū Umayya zur Ka‘ba. Als er das heilige Gotteshaus
erblickte, wurde er schreckensbleich. Die Wände drohten einzustürzen. Das altehrwürdige Gebäude musste unverzüglich repariert werden.
Ohne Zeit zu verlieren benachrichtigte er die führenden
Männer Mekkas und der Umgebung und lud sie zu einer Versammlung ein. Einstimmig wurde beschlossen, die Ka‘ba gemeinsam wieder aufzubauen. Innerhalb weniger Tage wurden
das Material herbeigebracht und die Arbeiten aufgeteilt. Dabei
sollte jeder Stamm einen ihm zugewiesenen Teil des Heiligtums
renovieren.
In kürzester Zeit wurde der Bau der Ka‘ba vollendet. Doch es
gab noch eine äußerst wichtige Frage. Wer sollte den schwarzen
Stein [al-Hajar al-aswad], der einst aus dem Paradies herabgekommen war, wieder an seine Stelle in der Ka‘ba platzieren? Das
könnte nur einer tun. Doch wem sollte die Ehre zuteil werden?
Es kam zu Meinungsverschiedenheiten, bei denen jeder sich
vordrängte und die anderen auszuschließen trachtete. Auf diese Weise vergingen Tage, ohne dass man auch nur einen Schritt
weitergekommen wäre. In einer Atmosphäre angespannter Stille
wuchsen Neid und Missgunst zwischen den Stämmen. So beschlossen die Stammesführer eine weitere Versammlung einzuberufen. Im Kreise der Führer ergriff Abū Umayya als Erster das
Wort und sagte:
„O ihr höchst geehrten Führer der Araber! Mit Allāhs Erlaubnis haben wir erfolgreich eine gewaltige Bürde geschultert. Uns
wurde die Ehre zuteil, dieses heilige Gebäude, bei dessen Gedenken die ganze Welt erbebt, wieder aufzubauen. Auf diese Leistung dürfen wir in höchstem Maße stolz sein. Wisset: Solange die
Menschheit lebt, werden unser Fleiß und unsere Anstrengungen
in aller Munde sein. In Bezug auf Hajar al-aswad [den Schwarzen
Stein] möchte ich sagen …“
In diesem Augenblick zog ein Abū Umayya gegenüber sitzender Mann mit dunkler Hautfarbe und eingefallenen Wangen
durch ein kurzes Räuspern die Aufmerksamkeit auf sich und warf
ein: „Ja, was den Schwarzen Stein betrifft, so steht es sicher mir
zu, ihn an seinen Platz zu legen!“
Ein anderer ereiferte sich: „Nein! Als Führer meines höchst
angesehenen Stammes gebührt diese Ehre allein mir!“
Ein korpulenter Mann griff nach seinem Dolch und rief:
„Genug jetzt! Jahrhundertelang hat unser Stamm dieser heiligen
Stätte große Dienste geleistet. Wenn es um diesen gesegneten
Stein geht, sind wir gerne bereit, sogar den Märtyrertod in Kauf
zu nehmen! Wenn ihr ein Blutvergießen verhindern wollt, dann
überlasst mir die Angelegenheit!“
Blitzschnell erhob sich der dunkelhäutige Mann. „So geht
das aber nicht!“, schrie er und ergriff ebenfalls sein Schwert. Auf
einmal herrschte ein gewaltiger Tumult.
In diesem Augenblick übertönte eine Stimme die anderen.
Es war die Stimme Abū Umayyas. Alle schauten ihn an. Abū Umayya ergriff das Wort und sprach langsam und deutlich:
„Bitte bewahrt die Ruhe! Ich habe einen Vorschlag: Lasst uns
einen Schiedsrichter wählen. Er soll zwischen uns vermitteln und
dann wollen wir alle seinem Beschluss zustimmen.“
Zuerst gefiel dieser unerwartete Vorschlag allen. Doch schon
nach wenigen Sekunden änderten die Männer ihre Meinung. Der
dunkelhäutige Mann sagte: „Wen können wir denn überhaupt als
Schiedsrichter wählen? Wer kann zwischen uns vermitteln, wo
wir derart verfeindet sind?“
Doch Abū Umayya antwortete ruhig: „Morgen früh treffen
wir uns alle an der Ka‘ba und den Ersten, der aus der Richtung
des Safa-Hügels herabkommt, nehmen wir zum Schiedsrichter.“
Die meisten waren von diesem Vorschlag nicht begeistert.
Man wusste schließlich nicht, wer schon beim ersten Sonnenlicht
dorthin kommen würde. Derjenige, der als erster dort erscheinen
würde, könnte ja vielleicht voreingenommen sein. Doch schließlich blieb ihnen zu einer möglichst baldigen Lösung des Problems
nichts anderes übrig, als diesen Vorschlag zu akzeptieren.
Am nächsten Tag richteten sich alle Augen auf den Safa-Hügel. Wer würde wohl zuerst von dort kommen? Von weit weg her
sah man etwas näherkommen. Jeder platzte vor Neugier. Ganz
aus der Ferne kam jemand geräuschlos herbeigeschritten und je
mehr er sich näherte, desto größer wurde die Spannung.
„Hier ist er“, rief plötzlich jemand. „Ja, hier ist er! Es ist
Muhammad al-Amīn [der Vertrauenswürdige]“, und andere
pflichteten ihm mit freudestrahlenden Augen bei: „Na also, da
kommt ein zuverlässiger Mann!“
Die Freude war unbeschreiblich. Sogleich erklärten sie
Muhammad (Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden), was ihr
Anliegen war. Sie berichteten ihm, dass sie in dieser Frage zu keiner Einigung kommen konnten, und baten ihn, die Aufgabe des
Schlichters zu übernehmen.
Auf Muhammads ehrwürdigem Antlitz (Allāh segne ihn und
schenke ihm Frieden) breitete sich ein strahlendes Lächeln aus.
Er, der Inbegriff tiefer Einsicht und Erkenntnis, löste das Problem
in einem Augenblick. Zuerst ließ er einen Vertreter jedes Stammes auswählen. Dann legte er seinen Überwurf ab, breitete ihn
auf der Erde neben der Ka‘ba aus, legte den schwarzen Stein darauf und sagte: „Die Vertreter der Stämme sollen die Enden des
Überwurfs ergreifen.“
Genau darin lag die Lösung dieses Konflikts. Al-Hajar alaswad wurde in einer Weise, die die Herzen aller mit Zufriedenheit erfüllte, an seinen Platz gebracht. Die Vertreter aller Stämme
waren beteiligt und fassten mit an, so dass niemand bevorzugt
oder benachteiligt wurde. Als der gesegnete Stein sich in Schulterhöhe befand, nahm der ehrwürdige Muhammad (Allāh segne
ihn und schenke ihm Frieden) ihn langsam in seine Hände und
legte ihn behutsam an seinen Platz. So wurde das Problem auf
bestmögliche Weise gelöst.
Abū Umayya war erleichtert. Er hatte sich nicht vorstellen können, dass diese Angelegenheit, die sie seit Tagen beschäftigt hatte,
so einfach zu regeln war. Er sagte zu sich selbst: „Muhammad ist
nicht nur absolut vertrauenswürdig, er ist in der Tat ein Genie.“
So löste dieser bedeutendste Mensch aller Welten dieses Problem mit beispielhaftem Weitblick und verhinderte eine drohende kriegerische Auseinandersetzung zwischen den Stämmen.